Donnerstag, 8. September 2011

Schluss - Aus - Ende

Gänsehaut ist in den letzten Tagen in Brno mein ständiger Begleiter. Ich versuche mir klarzumachen, dass ich diesen schönen Ort und die wunderbaren Menschen, die ich hier kennen gelernt habe, verlassen werde. Aber es klappt nicht. Ausgiebiger Heimaturlaub und danach komme ich wieder zurück. Worte wie Studiumsbeginn, Umzug oder gar Nachfolgerinnen sind tabu. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die immer sehr erfrischenden „du glaubst nicht, was mir heute passiert ist“ – Gespräche mit meiner Mitbewohnerin Eva enden. Abends in der Wohnung können wir über diese Geschichten herzlich lachen. Unsere euphorische und an Größenwahnsinn grenzende Reisepläne quer durch Mittel- und Osteuropa kann ich mir nicht mehr wegdenken. Genauso wie unser interner Wettbewerb nichts an kulturellen Ereignissen der mährischen Landeshauptstadt zu verpassen. Außerdem verstehe ich endlich meine Kolleginnen, sogar wenn sie schnell über Kollegen herziehen, endlich weiß ich, wie die Busse fahren, endlich kenne ich die schönsten Ecken Brnos, endlich fühle ich mich hier zu Hause.

In den Wochen vor meiner Abreise bin ich mit vier guten Freundinnen durch Rumänien gereist und hatte ein angenehmes Abschlussseminar mit meinen Mitfreiwilligen in Tschechien. Als ich nach Brno zurückkehre, ist der Alltag weit entfernt. Es sind kaum Klienten in der Tagesstätte, es gibt wenig zu tun und so ist die Woche sehr entspannt. Jedoch ist die Zeit nach der Arbeit stressig. Planen, wann ich wen noch ein letztes Mal besuche und was ich ihm/ihr zum Abschied schenke. Meine letzte Woche in Brno besteht ausschließlich aus Abschieden. Von wem ich mich einmal verabschiedet habe, möchte ich nicht zufällig auf der Straße nochmal treffen. Das Abschiedsszenario genügt einmal. Ich mag es nicht. Bis mir auf Tschechisch einfällt, was ich gerne meinem Gegenüber sagen und wünschen möchte, sind wir bereits fertig mit tschüss sagen. Die Frage, wohin es danach geht, endet für die Tschechen meist unangenehm. Es überrascht mich nicht, dass keiner Darmstadt kennt und für Heilpädagogik gibt es im Tschechischen keinen entsprechenden Ausdruck.

Diese letzte Woche ist eine meiner schönsten, doch zugleich schrecklichsten Wochen in Brno. In der Jüdischen Gemeinde werden wir viel herzlicher verabschiedet, als wir begrüßt wurden, und am Schabbat lernen wir plötzlich neue junge Leute kennen. Am Sonntag, meinem vorletzten Tag in Tschechien, machen wir noch zusammen mit meinen Kollegen einen Ausflug in das hübsche Lednice und Valtice (Weingebiet und großes Schlossareal). Warum schaffen wir das erst jetzt zum Schluss? Am Samstag organisiere ich zusammen mit meiner Mitbewohnerin Eva eine Abschiedsparty. Es ist ein schöner Abend, es kommen mehr, als wir erwartet hatten. Mir wird bewusst, was für ein großes Netz ich mir aufgebaut habe. Tschechen, die mir weiterhalfen, die mit mir was unternahmen und die sich um mich kümmerten. Auch wenn sie vielleicht manchmal nicht ganz verstanden, warum ein deutsches Mädel für ein Jahr nach Tschechien geht. Um zu arbeiten, ohne Geld zu verdienen und ohne Tschechisch zu sprechen. Im Rückblick weiß ich aber auch, dass dieses soziale Netz nicht immer so da war. Es dauert, bis Tschechen sich öffnen. Aber dann ist es sehr herzlich und offen.

Es ist gut zu wissen, dass wenn ich wieder nach Brno komme, ich eine Menge netter Leute zu besuchen habe. Wann kommst du uns wieder, fragen die Klienten. Ich weiß es nicht. Aber hoffentlich schon sehr bald!

Damit der Besuch nicht langweilig wird, haben Eva und ich, ehrgeizig und Brno-genussorientiert wie wir sind, bereits eine Liste erstellt, mit den Dingen, die wir nicht mehr geschafft haben…

Fotos aus den letzten Wochen:
Wir5
Unsere Rumänienreisetruppe

Romaniab
Teil 2 der Reise

ASF-Gruppeb2
Unsere ASF-Tschechien-Gruppe auf dem letzten Seminar

Sonntag, 19. Juni 2011

Sonne, Salzteig und Spaziergänge

Es ist Montagmorgen um 8 Uhr. Alle Utensilien und Koffer sind gepackt und im Bus verstaut. AssistentInnen und KlientInnen laufen aufgeregt umher. Noch ein letztes Mal auf die Toilette. Dann suchen sich alle einen Platz im Bus. Der Zustand des Busses entspricht allen Klischees eines tschechischen Busses. Alt, klapprig, abgenutzt und ohne funktionierendes Klimatisierungssystem. Doch das stört niemanden. Er wird uns schon zum Ziel bringen. Ungeduldig, nervös und traurig über den bevorstehenden Abschied warten die Eltern der KlientInnen vor dem Bus. Die Eltern verabschieden sich noch ein letztes Mal von ihren Liebsten. Dann fährt der Bus los. Alle winken. Die Szene erinnert mich an die Abreise zum Schullandheim in der 7. Klasse. Vermutlich wird es für Eltern immer schwieriger, sich von ihren Kindern zu verabschieden, je länger sie sich um sie kümmern. Ich verstehe sie nicht, denn eigentlich liegt vor ihnen eine entspannte, ruhige Woche.

Im Gegensatz zu uns Assistenten. Sonst endet die Effeta spätestens um 15 Uhr. Diese Woche wird der Tag enden, wenn die Klientinnen geduscht im Bett liegen. Jeder von uns hat zwei KlientInnen zugeteilt bekommen, für die er in den kommenden Tagen zuständig ist. Unter meiner Obhut sind Jana und Petra*. Ich habe mich über die Auswahl gefreut. Zwar weiß ich, dass Petra anstrengend sein kann, dennoch habe ich die beiden sehr gerne und freue mich auf die Woche.

Leider dauert die Busfahrt über drei Stunden, da wir einmal quer durch Tschechien in den Süden Böhmens fahren. Doch die Fahrt lohnt sich. Unsere Unterkunft liegt auf dem Berg, unten fließt die Moldau. Es ist landschaftlich sehr idyllisch. Wir verstauen den Inhalt der Reisetaschen im Schrank und beziehen die Betten. Dann gibt es Mittagessen. Das erweist sich als sehr entspannt. Wir müssen nur die gefüllten Teller abholen. Natürlich gibt es gute tschechische Hausmannskost, also Fleisch mit Knödeln, Nudeln, Kartoffelbrei oder Reis. Die Frage nach Gemüse erübrigt sich. Nur junge Deutsche haben gelegentlich Appetit auf frisches Gemüse. Alle anderen sind zufrieden.

Das Wetter ist schön. Einige gehen schwimmen in dem Pool auf dem Gelände. Jedoch fürchten sich Jana und Petra vor Wasser und so meiden wir leider, im Gegensatz zu den anderen, in den kommenden Tagen das Schwimmbecken mit dem erfrischend kühlen Wasser. Zum Glück habe ich mich auf die Mädels vorbereitet und Material zum Basteln eingepackt. Aus festem Filz und Salzteig schneiden und formen wir kleine Tiere und Figuren und bemalen sie. Am Ende wollen wir einen schönen Ast suchen, wo wir die Figuren aufhängen können. Das können dann die Mädels mit nach Hause nehmen. Dazu kommt es am Ende jedoch nicht, weil Veronika die Figuren als Halsketten an alle verschenkt. Das ist auch eine nette Idee, ging es mir doch nur darum, die Mädels mit Freude etwas basteln zu lassen.

Die weiteren Tage sind gefüllt mit Ausflügen und kleinen Spaziergängen. Einmal fahren wir zu der Burg „Zvíkov“ und einmal zu dem Schloss „Orlík“. Beide liegen sehr idyllisch direkt am Fluss und sind gut erhalten.Jana ist mit Freude dabei. Nur für Petra und mich erweisen sich die Ausflüge als stressig. Denn Petra hat spontan keine Lust mehr oder fürchtet sich vor Irgendetwas. Wegen Verständigungsproblemen weiß ich bis heute nicht ganz genau, was ihr Problem war. Auf verschiedene Art und Weisen überzeugte ich sie mal mehr, mal weniger erfolgreich, weitere Räumlichkeiten der Burg anzuschauen.

Jedoch ist der eigentliche Stresstest das Duschen am Abend. Wir haben zwei Duschen für acht Klientinnen und nach zwei Stunden kam nur noch kaltes Wasser. Dennoch ist es unmöglich die Mädels sich zum Beeilen zu bewegen. Sie haben ziemliche Angst auf den feuchten Fließen auszurutschen und fürchten sich etwas vor dem Wasser. So verläuft die ganze Prozedur in Zeitlupe. Beide Mädels können nahezu eigenständig duschen. Jedoch redet Petra ununterbrochen anstatt sich einzuseifen. Große Erleichterung macht sich breit, wenn die beiden in ihren Betten liegen und ich das Licht ausmache. Meist setze ich mich danach noch mit meinen KollegInnen zusammen. Dank meiner sprachlichen Fortschritte und der offenen Stimmung erfahre ich in dieser Woche mehr über die AssistentInnen und KlientInnen als in den ganzen letzten acht Monaten.

Am Freitagvormittag endet diese ereignisreiche, lebhafte und gefüllte Woche. Viele KlientInnen sind traurig, dass die fünf Tage schon vorbei sind. Die AssistentInnen sind erleichtert, dass niemand verloren gegangen ist, alle wohlauf sind und freuen sich auf ihr ruhiges Wochenende. Wir packen unsere Sachen. Petra schafft das ganz alleine, weil ihre Mama gesagt hat, dass sie das können muss, wenn sie alleine wegfährt. So bekomme ich nur am Ende die Ehre, beim Reißverschluss verschließen zu helfen. Die restliche Zeit darf ich nur zuschauen und eventuell Tipps geben. Diese Aktion geht natürlich nicht ohne ein Tränenvergießen über die Bühne.

Deshalb bin auch ich sehr froh, als wir endlich im Bus sitzen. Ich bin müde und erschöpft. Habe ich doch mit Petra die letzten Tage alles ausdiskutiert und das mit meinem kleinen tschechischen Wortschatz. Jana hat oft daneben gestanden und still gelacht. Sie hat wohl unser Spielchen durchschaut.

Wir kommen an der Tagesstätte in Brünn an. Die Eltern warten bereits. Freudig nehmen sie ihre Kinder empfang. Schauen, ob es ihren Kleinen gut geht. Bedanken sich bei den Assistenten. Vorüber ist die Stille, die fünf Tage in ihrer Wohnung geherrscht hat.

*Die Namen wurden geändert.

Jan fotografiert gerne und deshalb habe ich einige Fotos von der Woche:
http://www.dropbox.com/gallery/13035227/2/6%20Juni%202011/Freizeit%20Effeta?h=07d395

Montag, 2. Mai 2011

Synagogenbesuch und Gartenarbeit:

ASF-Freiwillige pflegten einen jüdischen Friedhof und lernten Neues über das Judentum

Schulklassen durch Gedenkstätten führen, Senioren zu Hause besuchen, in einer sozialen oder kulturellen Einrichtung zur Hand gehen: so sieht Freiwilligenarbeit für uns ASF-Freiwillige normalerweise aus. Wir arbeiten allein und eigenständig in unseren Projekten vor Ort und besuchen uns gegenseitig an den Wochenenden. Das ist auch gut so, denn nur so waren wir in den letzten Monaten gezwungen, uns in unsere neue Umfelder zu integrieren, Tschechisch zu lernen, unsere KollegInnen kennenzulernen und eigene Ideen und Projekte zu entwickeln. Manchmal macht es aber viel mehr Spaß, gemeinsam mit Gleichgesinnten anzupacken und zusammen etwas auf die Beine zu stellen. Daher leisteten wir Tschechien-Freiwillige, wie bereits unsere VorgängerInnen, einen Arbeitseinsatz auf einem jüdischen Friedhof. Wir acht plus unsere Länderbeauftragte Staňa Šimuniová wählten ein Wochenende im April aus, buchten eine Unterkunft, packten alte Kleidung ein und machten uns auf den Weg.

Bevor wir uns so richtig in die Arbeit stürzten, stand aber noch eine interessante Lehrstunde in Sachen jüdischer Religion und Tradition auf dem Programm. Herr Papousek, seines Zeichens Kantor der jüdischen Gemeinde in Olomouc, hieß uns sehr nett willkommen und informierte uns über die Geschichte und Gegenwart seiner Gemeinde ebenso wie über Gebetsrituale, Feiertagsbräuche und kulinarische Besonderheiten. So lernten wir am praktischen Beispiel, wie man Challa, das typische jüdische Sabbatbrot, zubereitet. Ausgestattet mit zwei Kisten ebendieses Brotes und zwei Flaschen koscheren Weins machen wir uns endlich auf den Weg zum Ort unseres Arbeitseinsatzes, nach Loštice.

In Loštice, einer gemütlichen Kleinstadt im Herzen Mährens, gibt es im Gegensatz zu Olomouc keine jüdische Gemeinde mehr. Das war nicht immer so: Jahrhundertelang existierten Juden und Christen in geradezu vorbildlicher Weise neben- und miteinander. Christliche und jüdische Schüler besuchten die gleiche Schule, und auch das Kulturprogramm wurde gemeinsam bestritten, zum Beispiel in einer Amateurtheatergruppe. Mit der Naziokkupation und dem Holocaust nahm diese friedliche Nachbarschaft ein jähes Ende. Heute zeugen vom jüdischen Leben in Loštice nur die Synagoge, die inzwischen frisch renoviert als Museum, pädagogisches Zentrum und Ort des Gedenkens dient.

Und der jüdische Friedhof, auf dem fast 400 Jahre lang die verstorbenen Mitglieder der jüdischen Gemeinde beigesetzt wurden. Unter ihnen auch Fanny Neuda, Verfasserin des ersten jüdischen Gebetsbuches für Frauen. Die Angehörigen der hier Bestatteten sind zum größten Teil in den Konzentrationslagern ums Leben gekommen oder wohnen im weit entfernten Ausland. So ist es inzwischen zur Tradition geworden, dass sich ASF-Freiwillige aus Deutschland, deren Vorfahren schließlich Schuld an diesem Umstand tragen, sich einmal im Jahr um die Erhaltung und Pflege des Geländes kümmern. So auch wir.

Es gab an diesem Wochenende für uns Freiwillige auf dem Friedhof genug zu tun: Reisig musste aufgesammelt und verbrannt, Hecken zurückgeschnitten, überwucherte Grabsteine wieder freigelegt werden. Im milden Frühlingswetter kamen wir ganz schön ins Schwitzen und freuten uns abends umso mehr auf die deftige Mahlzeit, das kühle Bier und das weiche Bett im Hotel. Unser Ansprechpartner vor Ort, Herr Štípl, sorgte dafür, dass alles reibungslos funktionierte, versorgte uns mit dem nötigen Arbeitsmaterial und darüber hinaus mit erstaunlichen Informationen zum Thema „Judentum und Tod“: Wer hätte gedacht, dass das Reinigen und Bekleiden von Toten als verdienstvolle und angesehene Tätigkeit gilt? Dass auf jüdischen Grabsteinen kunstvoll möglichst viele Informationen zum Lebenslauf und Charakter des Verstorbenen untergebracht werden? Oder dass der Sohn des Verstorbenen nach dem Tod des Vaters ein Jahr lang regelmäßig ein bestimmtes Gebet spricht? So lange dauert die Gerichtsverhandlung im Jenseits, die über den Verbleib der Seele entscheiden soll. Als letztes (entscheidendes?) Argument kurz vor dem Urteilsspruch soll der gottesfürchtige Sohn ins Feld geführt werden können, dessen Erziehung dem Vater offensichtlich gelungen ist.

Die Frucht unserer Arbeit konnte sich nach zwei Tagen durchaus sehen lassen: Der jüdische Friedhof erstrahlte in neuem Glanz. Wir nahmen Abschied von Loštice und seinen Bewohnern. Auf dem Heimweg bot sich ein Besuch der historischen Altstadt von Olomouc an, bevor alle wieder in ihre Städte und Projekte zurückkehrten.

von Eva und Teresa

Dienstag, 19. April 2011

Frühling in Brno

Lange habe ich darauf gewartet. Auf die ersten sprießenden Knospen, die zwitschernden Vögel am Morgen und die unvergleichbare Brise des Frühlings. Im Glanz der warmen Frühlingsonne sieht so manches tristes Gebäude, das dringend restauriert werden sollte, nicht mehr ganz so trostlos aus. Die Brünner drängt es hinaus auf die Straßen, in die Parks und auf die Bänke der großen Plätze. Besonders schön und befreiend sind die ersten warmen Tage für meine Panis (tschechisch: Damen), die ich montags immer besuche. Kein Eis, kein Schnee, kein schwerer Wintermantel mehr. Der Winter hat sie viel Kraft gekostet und für einige war es nur sehr selten möglich, nach draußen zu gehen, frische Luft zu schnappen oder sogar eine kleine Runde um den Block zu spazieren.

Daher bin ich gut gelaunt als ich am Montagnachmittag zu Pani M. ins Altersheim fahre. Sie ist im Januar 86 geworden. Letztes Jahr hatte sie eine Operation an ihrem Knie und in den letzten Monaten hat sie mühsam wieder das Gehen trainiert. Als ich im September ankam, war es schon eine große Herausforderung für sie, nur vom Bett zum nächstgelegenen Sessel wechseln. Inzwischen ist sie dank eines Wägelchens mit drei Rädern wieder relativ mobil und kann eigenständig für ein Sonnenbad auf den Balkon gehen. Aber für einen Spaziergang durch das Wohnviertel reicht es leider noch nicht. Deshalb hole ich nun bei jedem Besuch einen Rollstuhl und wir drehen gemeinsam eine ausgiebige Runde. Unglaublich, wie schmal Bürgersteige sein können und wie wenig abgeflachte Randsteine es gibt. Momentan arbeite ich noch an meiner Schiebetechnik. Es ist gar nicht so einfach, den Rollstuhl mit viel Power, aber möglichst sanft, eine Rampe hinaufzustoßen. Dazu noch meine Pani, die dem Rollstuhl und mir einiges mehr zutraut als es dank den Gesetzen der Schwerkraft möglich ist. Aber dazu später mehr.

Wenn ich zu ihr in das Zimmer komme, bleiben uns genau 60 Minuten zum An- und Ausziehen, Spazierenfahren inklusive kurzem Shopping in dem kleinen nahegelegenen Lebensmittelgeschäft (gibt es in Tschechien in jeder Straße) und dem abschließenden Kaffeetrinken im Aufenthaltsraum des Altersheims. Danach besuche ich eine zweite Pani, die Punkt 15 Uhr im obersten Stockwerk auf mich wartet. Fünf Minuten später und die geplante Reise zum Arzt oder zur Post ist nicht mehr im Zeitplan und muss auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Pani O. benötigt Hilfe beim Einsteigen in die Straßenbahnen mit den hohen Stufen und ist daher auf die Begleitung von uns Freiwilligen angewiesen. Da sie phasenweise unter Depressionen leidet, sind die Besuch bei ihr sehr unterschiedlich. Denn eigentlich ist sie eine sehr nette Person und so kam ich auch mal 10 Minuten zu spät und es war kein Problem. Aber da ich vorher nie weiß, was Pani O. heute für einen Tag hat, beeile ich mich grundsätzlich bei meiner ersten Etappe.

Wenn Pani M. ausgerüstet ist mit Jacke, Schuhen und Sonnenbrille und ihre Frisur sitzt, machen wir uns auf den Weg. Ich schiebe den Rollstuhl die Straße entlang. Es ist ein wunderschöner Tag, die Sonne scheint, kein Wind weht. Pani M. genießt die Tour sichtlich. Wir steuern natürlich als erstes den wichtigsten Stop unseres Ausfluges an: die Potraviny (kleines Lebensmittelgeschäft). Die Inhaber kennen uns, mindestens die Hälfte ihrer Kunden sind vermutlich Bewohner des Altersheimes. In der Vitrine suchen wir uns unseren Nachmittagssnack aus: Pani M. wählt ein typisches, sehr süßes tschechisches, mit Sahne gefülltes Gebäck, ich nehme ein Brötchen, das mit sämtlichen Sorten an Käse und Wurst belegt ist. Danach drehen wir inklusive Rollstuhl eine kleine Runde durch den Laden und meine Pani begutachtet ausgiebig die Waren. Ich versuche, sie überall hinzufahren, aber das ist unmöglich, weil der Laden natürlich nicht für Rollstuhlfahrer ausgerichtet ist. Schließlich entscheidet sie sich für einen Apfel und eine Birne und wir können zahlen. Für mich ist es immer ein bisschen unbegreiflich wie wichtig dieser Einkauf für meine Pani ist. Aber vielleicht hat diese Frau in ihrem Leben zu lange Zeiten des Mangels erfahren. Sie lebte als junges Mädchen für drei Jahre im Ghetto Theresienstadt. Außerdem ist es mit uns Freiwilligen für sie die einzige Möglichkeit, selbstständig einkaufen zu gehen und die Produkte selbst auszuwählen.

Der Ladenbesitzer hält uns die Tür auf und wir setzen unseren Spaziergang fort. Ich suche Abwechslung und so testen wir heute eine neue Route. Sie ist etwas idyllischer und führt ein kleines Stück am Fluss entlang. Wir kehren über einen kleinen Weg zurück zur großen Straße. Doch da kommt schon das erste Problem: Der Randstein ist nicht abgeflacht, aber wir müssten wieder 200m zurück um das Hindernis zu umgehen. Pani M. ist überzeugt, dass das kein wirkliches Hindernis ist und ich es mit ihrer Hilfe problemlos schaffe. Während ich noch überlege, zieht sie bereits nach vorne (sie kann ja noch ein bisschen gehen) und schon hängt der Rollstuhl mitsamt meiner Pani halb über der Straße. Nun gibt es kein Zurück, aber leider auch kein Vorwärts mehr. Ich sehe schon meine Pani auf der Straße liegen, mit gebrochenen Gelenken und mich wie ich versuche, dem Pflegedienst der Jüdischen Gemeinde die Situation zu erklären. Aber ich bin ja zum Glück in Tschechien und so kommt just in diesem Augenblick ein freundlicher Radfahrer vorbei, sieht unsere vertrackte Situation und fragt sofort, ob wir Hilfe brauchen. JA! Zwei Handgriffe später ist alles vorbei, der Rollstuhl steht unten auf der Straße und meine Pani ist wohlauf. Erleichtert bedanke ich mich und wir setzen unsere Spazierfahrt fort.

Es ist bereits nach halb drei und so treten wir den Rückweg an. Wir überqueren die Straße, der Gehweg auf der anderen Straßenseite ist zum Glück abgeflacht. Aber leider ist es immer noch ziemlich steil. Mit all meiner Power stemme ich mich gegen den Rollstuhl und versuche ihn den gefühlten Hügel hinaufzuschieben. Zweimal, dann gebe ich auf. Ich drehe den Rollstuhl und will eine andere Stelle ansteuern. Da hält ein Auto direkt vor uns an. Ich warte, weil ich nicht weiß, wo das Auto nun hinfahren wird. Ein Mann steigt aus, kommt auf uns zu, nimmt den Rollstuhl und schiebt ihn mit einer Leichtigkeit für mich auf den Gehsteig. Immer noch mit offenem Mund, bedanke ich mich. Der Mann steigt wieder ins Auto und fährt weiter.

Ohne weitere Komplikationen kehren wir zurück ins Altersheim. Zu sehr aromatischen Kaffeeautomaten-Instant-Kaffee verspeisen wir nun unsere Einkäufe. Jetzt können wir uns auch endlich unterhalten, denn ich verstehe Pani M. nur sehr schlecht, wenn sie vor mir im Rollstuhl sitzt. Wenn ich Ausflüge an vorherigen Wochenenden gemacht habe, bringe ich immer meine Digitalkamera mit und zeige ihr, wo ich war und was ich gemacht habe. Sie spricht zwar ein bisschen Deutsch, aber es reicht nicht für Unterhaltungen. Ich wiederum verstehe ihr Tschechisch nur sehr schlecht (mir wurde zum Glück inzwischen bestätigt, dass ich da nicht die einzige bin) und so ist unsere Kommunikation etwas schwierig. Jedoch habe ich das Gefühl, dass sie dank der Fotos meinen Erzählungen folgen kann.
Ich schaue auf die Uhr: es ist bereits drei. Schnell verabschiede ich mich und steuere die Treppe an.

Samstag, 12. Februar 2011

Seminar im Nirgendwo

Auf das Mid-Term-Seminar vom Europäischen Freiwilligendienst habe ich mich immer gefreut. Es lag in weiter Ferne. Wir würden uns Geschichten über unsere ersten, im Nachhinein auch sehr amüsanten Wochen in der Fremde erzählen. Wenn Mid-Term sein würde, dann würde ich schon eine Ewigkeit in Tschechien gewesen sein. Ich war mir sicher, dass ich mich bis zum Mid-Term ein wenig sicher fühle würde im Umgang mit der tschechischen Sprache, meine Nachbarn kennen würde und mich natürlichen entschieden habe würde, was und wo ich studieren möchte. So zumindest dachte ich.

Die Abende, an denen ich nach Hause komme und Eva und ich uns über unsere abenteuerliche Situation des Tages berichten und darüber in unserer heimeligen Wohnung herzlich lachen müssen, gibt es zum Glück immer noch. Uns wäre es sonst doch langweilig.
Von meinen Nachbarn kenne niemanden, außer einer und die klingelt neuerdings gerne Sturm bei uns, weil sie Zigaretten oder Geld von uns möchte. Und das Studienfach? Das hat doch noch Zeit.

In dieser Situation erreicht mich die Einladung zum Mid-Term-Seminar. Fünf Tage Seminar in einem kleinen Dorf in der Nähe von Ústí nad Labem (an der Elbe). Ústí ist eine reizende Industriestadt im Nordwesten Tschechiens nahe der deutschen Grenze. Für mich bedeutet das viereinhalb Stunden Zugfahrt über Prag nach Ústí mitten durch Tschechien. Ich mag die Strecke von Prag nach Ústí, denn sie verläuft entlang der Elbe. Das Ufer ist gesäumt von vielen kleinen „Chatas“, den einfachen Wochenendhäusern. Das „Must-Have“ eines jeden Tschechen. Ich kenne keine tschechische Familie, die keines Besitzt. Im Sommer, wenn die Natur wieder grünt, ist es entlang der Elbe bestimmt sehr idyllisch.

In Ústí nehme ich einen Bus in das nahegelegene Dorf „Sebuzín“. Jedes EVS-Seminar verspricht einen unbekannten Ort, den man davor garantiert noch nicht kennt und wo man auch bestimmt nicht so schnell wieder vorbeikommen wird. Der Bus hält an der Landstraße. Rechts fließt die Elbe, links am Hang liegt eine Ansammlung von Häusern. Zufällig sehe ich Ilaria (aus Italien) und Pauline (aus Frankreich), die gerade mit dem Zug angekommen sind. Pauline hat ihren Lageplan für die Unterkunft zu Hause vergessen. Ilaria hat sich auf sie verlassen. Und ich? Ich habe mir lediglich den Namen des Zentrums aufgeschrieben, war ich mir doch sicher, dass ich andere Freiwillige auf dem Weg dorthin treffen werde. Auf diese Weise lernen wir immerhin die Dorfbewohner kennen. Nur kann sich von ihnen anfangs keiner vorstellen, wo hier ein Haus stehen soll, in dem Platz für eine Gruppe mit 20 Personen ist. Dafür freut sich ein Dorfbewohner über die willkommene Abwechslung. Drei Mädels verschiedener Nationen an einem eigentlich ganz gewöhnlichen Mittwochnachmittag.

Doch schließlich finden wir das gesuchte Haus. Nach dem letzten Seminar hatten ja einige gebangt, dass wir wieder selbst heizen müssen und unser Zimmer mit Mäusen teilen. Aber alle Befürchtungen waren unbegründet. Zum Ausgleich behausen wir diesmal eine wahrhaftige Residenz. Unsere Zimmer sind warm, gemütlich und komfortabel. Wir sind die einzigen Gäste und haben somit das Haus für uns. Von der Herbergsmutter und ihrem Team werden wir in den folgenden Tagen kulinarisch gut umsorgt. Nur leider bestätigt sich wieder die tschechische Regel: „Wer kein Vegetarier ist, isst zu jeder Mahlzeit Fleisch.“ Begleitend zum Abendessen läuft in dem großen Fernseher im Speisesaal ein deutscher Musiksender. Nach einem halben Jahr Fernsehabstinenz sind wir amüsiert und entsetzt zugleich, wie durchweg niveaulos und pornographisch viele Musikclips sind.

Unsere Aufgabe für den ersten Abend: Planen und Ziele setzen für die kommenden Tage. Das Konzept unserer TrainerInnen basiert auf dem Prinzip der Eigeninitiative der TeilnehmerInnen. So sollen am Ende unsere Erwartungen und Bedürfnisse befriedigt werden. Unsere Wünsche für das Seminar sind Austausch, Rückblick auf die letzten Monate, Reflexion, Finden von Lösungen und am Ende ein Ausblick auf die zweite Hälfte unseres Freiwilligendienstes. Reflexion klingt für viele anstrengend, befremdlich und vor allem unnötig. Trotzdem bleibt es am Ende auf der Liste.

Daraus stellen unsere TrainerInnen ein Programm auf die Beine. Wir haben Zeit, uns über unsere Projekte und Entwicklungen seit dem On-Arrival-Seminar, auszutauschen. Ich zum Beispiel kenne dieses Mal im Vergleich zum ersten Seminar immerhin mein Projekt. In Kleingruppen tauschen wir uns je nach Projektbereich aus. Für mich persönlich war dieser Part am Hilfreichsten. Ich weiß nun eine Freiwillige, die in einer sehr ähnlichen Einrichtung arbeitet und die gleichen Fragen und Probleme hat wie ich. Sie kann mir in den kommenden Monaten eine gute Ansprechpartnerin sein, in Bezug auf Probleme oder neuen Ideen. Durch dieses Seminar entstehen am Ende auch viele Projekte, in die mehrere Freiwillige involviert sind. Einige starten noch während des Seminars ein Videoprojekt, eine Freiwillige beginnt ein Fotoprojekt über Freiwillige bei der Arbeit und zu Hause.

Der Part mit der Selbstreflektion findet in Form von Fragen statt, die jeder für sich selbst beantworten darf und eine Trainerin bietet einen inspirierenden Workshop zum Thema Motivation und Demotivation an. Einen Nachmittag machen wir einen kleinen Ausflug und fahren zurück in die Zivilisation, in die Stadt „Litomĕřice“. Am folgenden Tag entlassen uns die Teamerinnen für eine spontane Wanderung zu einer nahegelegenen Burgruine. Für mich halten die Seminartage am Ende eine gute Balance zwischen Programm, Freizeit und Schlaf. Das erste Seminar war durch das eigenständige Kochen und Beheizen der Zimmer deutlich stressiger. Dennoch sind wir TeilnehmerInnen uns einig, dass das Kochen damals viel Spaß gemacht hat und gruppendynamisch optimal war. Hier auf unserem zweiten Seminar in „Sebuzín“ sind wir vom ersten Moment an eine Gruppe, die viel gemeinsam organisiert und niemanden ausgrenzt.

Rückblickend lässt sich sagen, dass das Seminar vor allem von dem Austausch der TeilnehmerInnen untereinander gelebt hat, von der neuen Energie und Motivation jedes Einzelnen, die zweite Hälfte gut zu nutzen. In diesem Dorf bei Ústí waren wir weit weg von unserem Projekt, draußen aus unserem Alltag und unserer Routine. Jeder hatte Zeit, Pläne zu schmieden und fragte den anderen nach seinen Ideen. Deshalb ist die Stimmung am Sonntagmorgen als wir aufbrechen, nicht traurig, weil es unser letztes gemeinsames Seminar ist, sondern euphorisch. Wir wissen, dass wir uns in diesem kleinen Land bei irgendeinem Projekt wieder treffen werden.

Freitag, 10. Dezember 2010

Mikoláš in der Effeta

„Heute feiern wir Nikolaus (auf Tschechisch: Mikoláš, gesprochen Mikolaasch)“, klärt mich eine Assistentin in der Effeta am Freitagmorgen auf. Klar, Nikolaus kenne ich, denke ich mir. Es kommt der Nikolaus drauß vom Walde mit seinem Knecht Ruprecht, dem goldenen Buch, seiner Rute und hoffentlich ganz vielen Süßigkeiten. Wenn wir ihn nicht persönlich treffen, stellen wir unsere Schuhe abends vor die Tür. „Wie feiern wir?“, frage ich die Assistentin. „Heute Morgen dürfen sich die KlientInnen als Teufel oder Engel verkleiden und später spielt jemand den Bischof.“ Engel? Teufel? Hier in Tschechien gibt es keine Rute, keinen Knecht Ruprecht und schon gar keine gefüllte Schuhe vor der Tür. Engel und Mikoláš verschenken die Süßigkeiten. Der Teufel hat einen Sack und nimmt die Kinder, die nicht brav waren, mit. „Warum braucht ihr auch noch einen Teufel und einen Engel?“, frage ich. Doch das kann mir niemand so genau erklären.

Wir holen die Kisten aus dem Regal. Darin finden wir Teufelshörner und –schwänze, schwarzrote Stofffetzen, weiße und silberglitzernde Kleider, Sternenkränze und Engelsflügel. Jeder findet ein passendes Kostüm. Ob fies verkleideter Teufel oder güldener Engel, alle strahlen sie in ihren ausgefallen Verkleidungen. Wir gehen nach unten zur Party-Location. Dort gibt es Käsestangen, Chips und Cola. Ein Assistent hat Schminke ausgepackt. Die Teufel bekommen einen Bart und große, bedrohliche Augen, die Engel goldene Sterne und rote Bäckchen, aufgemalt.

Eine Assistentin legt eine CD ein: tschechischer Folklore. Wir bewundern die kreativen, sehr unterschiedliche Kostüme und machen jede Menge Fotos. Eine Klientin hat sich mit einem langen Arztmantel und einer langen weißen Bischofshaube aus Papier als Bischof Mikoláš verkleidet und verteilt nun Obst und Schokolade an die KlientInnen. Die Musik juckt uns in den Beinen und wir beginnen zu tanzen. Ich tanze mit M. Er wirbelt mich über die Tanzfläche bzw. den Teppichboden. Nur muss er immer wieder das Tanzen unterbrechen um seine Käsestangen zu verspeisen. Ich warte geduldig und unterdrücke mein Grinsen bis er wieder bereit ist.

Am Sonntagabend (5.12.) gehe ich mit Eva über den Weihnachtsmarkt. Viele Kinder bzw. vor allem Jugendliche sind als Teufel oder Engel verkleidet. Ein kleines Mädchen beginnt zu weinen als ein Teufel mit seinem Sack auf sie zu geht. Ob der Brauchtum mit dem Teufel wirklich so gut ist?
Wir gehen nach Hause. Gerne würde ich jetzt (wie zu Hause) meine Schuhe vor unsere Wohnungstür stellen. Aber es würde doch nur Nachbarshund dran knabbern.

Mittwoch, 17. November 2010

Mein Arbeitstag als Freiwillige

Dienstagmorgen um 7.18. Ich haste vom Bad in mein Zimmer und zurück in die Küche auf der Suche nach meiner Trinkflasche, meinen Tschechischvokabeln und meinem Ipod. Inzwischen ist es 7.20 und ich muss dringend los. Ich schließe die Wohnungstür und laufe los. Um 7.24 bin ich noch 200m von unserer Endhaltestelle entfernt. Die Tram setzt sich in Bewegung und fährt an die Einstiegstelle. Das ist mein Startsignal und ich spurte los. Außer Atem springe ich in die Straßenbahn, die Türen schließen sich und die Tram setzt sich ruckartig in Bewegung. Ich entspanne mich, Sitzplatz gibt es zwar keinen mehr, aber ich weiß, dass ich erst 34min umsteigen muss. Danach folgen nochmal 20min mit einer anderen Tram. Wenn die Tram keine Verspätung hat, erreiche ich an der Endstation im Stadtteil Lišeň den Bus zur Effeta, meinem Arbeitsplatz. Bei der letzten Etappe habe ich immer die Wahl zwischen einem 10-15minütigen Morgenspaziergang oder einer 3minütiger Busfahrt. Für gewöhnlich nimmt mir die Uhrzeit die Entscheidung ab.

Nach der Reise vom einen zum anderen Ende von Brno erreiche ich nun das gemütliche und im Gegensatz zur Tram vor allem warme Haus der Effeta. Ich ziehe meine Hausschuhe an und gehe in den Aufenthaltsraum. Die Effeta gehört zur Charitas von Brno und ist eine Tagesstätte für Menschen mit Behinderung im Alter von 25 bis 50 Jahren, wobei die meisten KlientInnen zwischen 30 und 40 Jahre alt sind. Sie kommen jeden Morgen bis 8.30 Uhr zur Effeta und verlassen sie nachmittags zwischen 14 und 15.30 Uhr. In der Effeta hat es Platz für 26 KlientInnen, die hauptsächlich von sechs Pädagogen und einem Sozialarbeiter betreut werden. Außerdem arbeitet bei der Effeta eine sehr reizende Köchin, die gute Seele des Hauses und natürlich der Chef und seine Sekretärin.

Inzwischen ist es 8.40 Uhr und der Morgenkreis beginnt. Betreuer Petr stimmt ein tschechisches Lied an und begleitet es auf der Gitarre. Einige KlientInnen haben sich ebenfalls eine Gitarre geschnappt und versuchen Petr zu imitieren. Es klingt schön und schräg zugleich. Eine wundervolle und entspannte Art, einen Tag zu beginnen. Das Lied ist zu Ende und es gibt organisatorische Dinge zu klären. Wer heute in welchem Workshop ist, wobei die Aufteilung meistens gleich ist und wer welches Mittagessen am darauffolgenden Tag möchte. Petr stimmt ein zweites Lied an. Inzwischen sind alle KlientInnen eingetroffen und es gibt Frühstück. Eine Hälfte frühstückt unten im Aufenthaltsraum, meine Gruppe ist immer oben. Wir gehen in die Küche und holen Tee, Hörnchen und Obst.

Um 9.30 Uhr geht es mit dem Programm weiter. Es werden verschieden Workshops für die KlientInnen angeboten. Die Gruppen bestehen aus 4-5 Personen mit jeweils einem Betreuer. Die Aufteilung erfolgt von den BetreuerInnen und richtet sich nach den Bedürfnissen, Fähigkeiten und Wünschen der KlientInnen. Zur Auswahl steht das Arbeiten mit Textilien, mit Holz oder Keramik. Außerdem werden in einem Workshop Körbe geflochten, Ketten aufgefädelt oder Blätter für Notizbücher gelocht und in Spiralen eingedreht. Ich bin normalerweise immer in dem Keramikworkshop bei Hanka. Sie gehört zu den wenigen Betreuerinnen der Effeta, die gut Englisch spricht. Bevor wir beginnen, legt ein Klient erst einmal eine CD ein. Wir hören fast immer Musik beim Arbeiten. Manche KlientInnen sitzen manchmal auch nur da und hören Musik. Der Musikgeschmack ist der KlientInnen ist sehr unterschiedlich. Er geht von John Lennon bis hin zu tschechischen Volksliedern.

Momentan steht das Regal im Keramikraum voll mit bereits gebrannter, aber noch nicht glasierter Keramik von Hankas Vorgänger. Deshalb sind wir heute damit beschäftigt, sämtliche Figuren und Schalen zu glasieren oder mit Engobe zu bemalen. Mir gefällt es in diesem Workshop sehr gut. Es ist fast ein bisschen wie Kurs C (der künstlerische Zug an meiner alten Schule). Ich bemerke immer wieder, dass ich doch ein gewisses Grundwissen aus dieser Zeit mitbringe und es jetzt anwenden kann. Überhaupt ist die Effeta ähnlich ausgestattet wie der Kurs C. Es gibt nichts, dass es nicht gibt. Daher darf ich mir auch noch eigenständig Projekte suchen, bei denen ich selbstständig mit den KlientInnen etwas herstellen darf. Ich habe dafür sogar mein eigenes Budget.

Mein erstes eigenes Projekt habe ich inzwischen schon erfolgreich beendet. Wobei bei diesem Mal die Idee und das Material von Hanka stammten. Sie hatte grüne Stofftaschen besorgt, ich klebte mithilfe von Klebestreifen Muster auf die Taschen und bleichte anschließend mit einem sehr aggressiven Putzmittel die freien Stellen. Heraus kam ein grünliches Gelb. Ich zog die Klebefolien ab, wusch die Taschen aus, wartete bis sie getrocknet waren und bügelte sie. Jetzt konnten die Klienten mit Stofffarben die verschiedenen Formen ausmalen. Für sie ist es schwer, eigenständig Figuren und Formen zu malen. Heraus kamen am Ende viele unterschiedliche und bunte Stofftaschen. (Ich habe leider noch kein Foto von den fertigen Taschen.) Diese Taschen sind nicht für den Verkauf bestimmt. Die KlientInnen werden sie ihren Familien zu Weihnachten schenken.

Hier sind Fotos von meinen Vorbereitungen: http://www.dropbox.com/gallery/13035227/2/Oktober%202010/Effeta?h=6ee844

Nun ist es 11 Uhr. Kaffeepause. Die KlientInnen machen sich ihren Instantkaffee und trinken ihn genüsslich. Kaffeetrinken ist ein sehr wichtiges Ritual für einige KlientInnen. Es ist für sie wohl ein Ritual der Erwachsenen. Nach der Pause heißt es dann schon aufräumen. Um 12 gibt es Mittagessen. Wir gehen nach unten und holen Geschirr, Tee, Suppe und die Hauptmahlzeit. Tschechien ist ein Suppenland und deshalb beginnt fast jedes Mittagessen mit einer Suppe. Die bekomme ich auch umsonst. Wenn ich auch ein Hauptgericht möchte, muss ich 2€ zahlen. Beim Mittagessen versuche ich zu verstehen, über was sich meine Kolleginnen unterhalten. Immer wieder übersetzen sie es mir und ich freue mich, wenn ich das richtige Thema vermutet habe. Von 12.30 bis 13.00 ziehe ich mich meistens zurück und mache eine Pause. Die Arbeit in der Effeta ist nicht anstrengend, aber die Kommunikation. Zwei Betreuerinnen sprechen Englisch. Sonst läuft alles auf Tschechisch. Das ist gut für meine Motivation, schnell Tschechisch zu lernen. Aber die ersten Wochen waren schwer. Nicht sagen zu können, was man gerne sagen möchte. Die KlientInnen nicht verstehen und ihnen antworten können. Sie sind zwar sehr geduldig und wiederholen alles mehrmals für mich, aber ich versteh den Satz beim dritten Mal leider trotzdem noch nicht, wenn ich das Wort nicht kenne. Inzwischen kenne ich die KlientInnen und Gesprächsthemen besser, das macht die Kommunikation einfacher.

Nun ist es 13 Uhr. Wir arbeiten noch mal für eine Stunde. Um 14 Uhr räume ich mit Hanka auf. In den nächsten zwei Stunden werden die KlientInnen nach und nach abgeholt. Entweder von ihren Familien oder von den Betreuern aus dem „Betreuten Wohnheim“. Also zum Beispiel von meinen Mitbewohnerinnen und -freiwilligen Eva und Talita, die dort arbeiten. Ich mache mich auf den Weg zur Tram um nach Hause zu fahren. Müde, von dem vielen Tschechisch, aber zufrieden, weil ich heute schon wieder zwei Sätze mehr sagen konnte.

Donnerstag, 28. Oktober 2010

Deutsch-Französisches Wochenende in Prostĕjov

Letzten Freitag war es endlich so weit: ich habe endlich den letzten Part meiner Aufgaben in der offenen Altenarbeit kennengelernt! Jeden zweiten Montag arbeite ich für die Organisation „Živá Pamĕť“ (übersetzt: Lebendige Erinnerung) aus Prag. Sie ist eine Anlaufstelle für Opfer des Nationalsozialismus und für Dialog zwischen den Generationen. Živá Pamĕť hat in verschiedenen tschechischen Städten Zentren für Senioren aufgebaut. Zusätzlich besuchen einige Freiwillige regelmäßig Senioren in deren Zuhause, unterstützen sie im Alltag und sind ihnen ein interessierter Gesprächspartner. Denn die Klienten haben spannende Geschichten zu erzählen.

Für uns Freiwillige in Prag, Budweis, Ustí nad Labem, Olomouc und in Prostĕjov heißt das, das wir die KlientInnen einmal pro Woche zu Hause besuchen. Da ich in keiner der aufgezählten Städte wohne, gehört dieses Projekt eigentlich nicht zu meinen Aufgaben. Eigentlich. Aber noch mehr eigentlich hat ASF mich für ein Projekt in Olomouc angenommen. Das kann dieses Jahr leider nicht finanziert werden und deshalb ist dieses Jahr kein/e Freiwillige/r in Olomouc. Dennoch hat Živá Pamĕť einige KlientInnen in Olomouc und der Partnerstadt Prostĕjov, die nur ungern ein Jahr auf regelmäßigen Besuch von netten, lebhaften und sehr motivierten Freiwilligen aus Deutschland verzichten. Živá Pamĕť hat dafür eine vorübergehende Lösung gefunden. Das heißt, dass Stefanie, eine Freiwillige in Olomouc, zusätzlich zu ihren eigentlichen Aufgaben hin und wieder KlientInnen in Olomouc besucht. Prostĕjov liegt auf der Strecke Brno – Olomouc und daher besuche ich nun jeden zweiten Montag zwei sehr reizende Klientinnen in Prostĕjov. An den anderen Montagen besuche ich nämlich schon die Klientinnen der Jüdischen Gemeinde in Brno. Es ist nicht die Ideallösung, aber ich habe bei meinem Besuch in Prostĕjov gespürt, wie sehr sich die Damen über meinen Besuch freuen. Ihre Ehemänner sind bereits verstorben und so bin ich eine willkommene Gesprächspartnerin. Leider spricht eine Klientin nur Tschechisch und so unterhalten wir uns im Moment mehr mit Händen und Füßen. Aber beim Nussknacken ist es nicht so schlimm, wenn man sich so viel reden kann.

Ich habe die beiden bereits in mein Herz geschlossen und so nehme ich die lange Hinfahrt gerne auf mich. Wenn ich nach Prostĕjov fahre, verlasse ich morgens um 9.30 Uhr das Haus und komme abends um 19.30 Uhr wieder zurück. Schade, dass ich aber bei jeder Frau nur zwei Stunden bin. Denn zum Busbahnhof in Brno brauche ich eine Stunde, von dort nach Prostĕjov 1,5 Stunden und dort angekommen noch 10 min mit dem Bus.

Meine Klientinnen kenne ich seit letztem Freitag. Zusammen mit Alena von Živá Pamĕť habe ich meine Erstbesuche in Prostĕjov. Sie stellt mich den Damen vor und fragt sie, was sie gerne mit mir machen würden. Ob sie Unterstützung im Haushalt brauchen, mit mir Spazieren oder zum Arzt gehen oder sich einfach mit mir unterhalten möchten. Letzteres ist für sie am Wichtigsten.

In Prostĕjov kenne ich von meinem EVS-Seminar Pauline. Sie kommt aus Frankreich und arbeitet in Prostĕjov als Freiwillige in einem Büro, das mit Seminaren in der Umgebung von Prostĕjov Jugendliche über ihre Möglichkeiten in Europa aufklärt. Außerdem bietet sie Französisch-Konversation an. An diesem Freitag, nach meinen Erstbesuchen, nutze ich die Gelegenheit und besuche sie. Meine Mitbewohnerin Eva kommt am Abend auch noch nach, weil wir am nächsten Tag noch nach Olomouc möchten. Pauline ist sehr nett, unkompliziert und vor allem gastfreundlich! So bekommen wir abends ein leckeres Abendessen und frischen, selbstgebackenen Kuchen. Nur ist es in ihrer Wohnung sehr kalt! Wir beschließen, noch das Nachtleben dieser aufregenden Stadt kennenzulernen. Prostĕjov ist vergleichbar mit Heidenheim. Es gibt schöne Ecken, aber das ist auch alles. Dennoch finden wir ein gutes Konzert in einer „alternativen“ Kellerbar. Die Musikrichtung können wir nicht ganz definieren. Wir nennen es kurzerhand einfach mal „alternativ“. Nach dem Rückweg, zu Fuß natürlich, wir sind ja nicht in Brno, kommt es uns nun in der Wohnung recht warm vor.

Bilder von Prostejov (und Pauline):
https://www.dropbox.com/photos/Oktober%202010/Prostejov/

Am Samstag können wir mit ihrer Freundin Marion mit dem Auto mit nach Olomouc fahren. Auto fahren ist inzwischen ganz ungewohnt. Das letzte Mal war wohl zu Hause. Marion kommt auch aus Frankreich und ist arbeitet hier seit 4 Jahren als Lehrerin für Deutsch und Französisch. Sie kennt sich aus in Olomouc und führt uns durch das Zentrum. Die Erklärungen sind natürlich auf Französisch. Eva und ich sind begeistert, wie viel wir verstehen. Wohl vor allem im Vergleich zu Tschechisch. Nur am Ende des Tages habe ich einen Knoten in meinem Kopf. Auf Englisch, Französisch, Deutsch und Tschechisch gleichzeitig zu kommunizieren, ist wohl doch ein bisschen zu viel auf einmal. In Olomouc kenne ich mich nicht mehr wirklich aus. Es ist nun doch schon fast 4 Jahre her, als ich das letzte Mal mit der Schule hier war. Ich erkenne nur hin und wieder Plätze oder Gebäude. Olomouc ist Studentenstadt, fast so groß wie Ulm und hat noch ein bisschen mehr Charme.

Bilder von Olomouc (und Pauline und Marion):
http://www.dropbox.com/gallery/13035227/2/Oktober%202010/Olomouc?h=6d88e8

Am Nachmittag findet in Prostĕjov in einer Kirchengemeinde eine Auktion für die „Ausländer in Prostĕjov“ statt. Pauline und Marion wurden eingeladen, doch vorbeizukommen. So begleiten wir sie, ohne zu wissen, was uns erwartet. Es ist eine Auktion im gemütlichen Kreis der Gemeindemitglieder. Viele Familien sind da. Die Papas sind damit beschäftigt, die Arme ihrer kleinen, sehr eifrigen Söhne festzuhalten, damit diese nicht alles ersteigern. In der Pause gibt es leckere selbstgebackene süße Teilchen. Am Ende der Auktion bin ich stolze Besitzerin von zwei Zimmerpflanzen. Jetzt ist es in meinem Zimmer noch wohnlicher.

Am Samstagabend setzen wir uns in einen gemütlichen, warmen Zug und fahren zurück zu unserer warmen Wohnung in Brno. Seitdem wir wissen, dass Pauline jeden Morgen unter der Dusche nur zwei Minuten warmes Wasser hat, schätzen wir unsere luxuriöse Wohnung umso mehr. Wir können nämlich morgens 15 Minuten warm duschen und dann nach dem Frühstück auch das Geschirr noch mit heißem Wasser spülen.

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